Als Niederlandist untersucht Chris De Wulf zum Beispiel, wie sich Diminutivendungen* in verschiedenen Dialekten über die Zeit verändern. Die Endungen extrahiert er aus Dokumenten wie Tagebüchern oder Urkunden – automatisch versteht sich – und speichert sie in Tabellen. Doch erst durchs Kartieren enthüllen sich ihm die Zusammenhänge.
*Das Diminutiv ist eine grammatikalische Verkleinerungsform eines Substantivs, z. B. Maus – Mäuschen oder Hund – Hündchen.
Bevor Chris überhaupt etwas aus seiner linguistischen Forschung kartieren konnte, musste er eine Grundkarte erstellen. Denn die Küstenlinien der heutigen Niederlande entsprechen nicht denjenigen im 16. Jahrhundert. An einigen Stellen wurde Land aufgeschüttet, an anderen Stellen hat sich das Meer das Land zurückgeholt, wodurch sich die Fläche und der Umriss der Niederlande verändert haben. «Ich habe versucht, eine historische Annäherung zu schaffen, damit ich die Veränderungen in der Sprache vom 16. bis zum 19. Jahrhundert abbilden kann», erklärt Chris. Gezeichnet hat er die Karte elektronisch auf Basis von altem Kartenmaterial.
In der Dialektologie lassen sich Karten auf zwei Arten einsetzen, so der Linguist. «Auf Symbolkarten werden Varianten pro Ortschaft, also punktuell, abgebildet. Ihnen gegenüber stehen die flächigen Karten, auf denen sogenannte Isoglossen Grenzen zwischen zwei Ausprägungen eines sprachlichen Merkmals markieren, z. B. die Aussprache eines Buchstabens oder die Verwendung eines Wortes (Apfel vs. Appel).» Für ein Laienpublikum seien die flächigen Karten einfacher zu verstehen, in der Forschung aber arbeite er mit Symbolkarten. «Ich habe zum Beispiel Diminutivendungen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert untersucht und die verschiedenen Endungen auf einer Symbolkarte dargestellt.» Im 16. Jahrhundert lauten die Endungen -gen, -tgen, -etkin, -ke(n), -kin, -eken, -ekin etc.; im 19. Jahrhundert zum Beispiel -jen, -tje(n), -dje, -etje oder -s(e)ken. Die Diminutivendungen hat Chris zusammen mit einer Kollegin, Eline Lismont (Vrije Universiteit Brussel), automatisch aus sogenannten Ego-Dokumenten extrahiert. Dabei handelt es sich um Dokumente wie Tagebücher oder Briefe, die in der Ich-Form geschrieben und bis heute erhalten sind. Diese Dokumente lassen sich dem Ort zuschreiben, an dem sie verfasst wurden, und erhalten somit eine räumliche Komponente. Ortsnamen sucht man in den Tabellen von Chris aber vergebens. «Wir arbeiten in der Niederlandistik seit ca. 100 Jahren mit dem sogenannten Kloekecode», erklärt Chris. Dabei handelt es sich um eine Codierung, die jeder Ortschaft einen eindeutigen, alphanumerischen Code zuweist (siehe Box unten für weitere Infos). Da im 16. Jahrhundert hauptsächlich die reicheren Leute lesen und schreiben konnten, repräsentieren die Dokumente nicht die ganze Bevölkerung. «Doch wir müssen mit denjenigen Quellen arbeiten, die wir aus dieser Zeit haben», meint Chris. Wichtig für seine Forschung sind nicht nur die Endungen, sondern auch die Laute vor der Diminutivendung. «Wir nennen das phonotaktische Codierung, denn der Laut vor der Endung bestimmt darüber, welche Diminutivendung angewendet wird. Das gilt heute noch im Niederländischen», erzählt Chris.
Räumlich-zeitliche Veränderungen schnell erfassen
Während Chris durch die Tabellen scrollt, wird einem klar, dass es viele Daten sind. Man verliere sich gerne in den Zeilen und Spalten, gibt Chris zu. «Zudem geben die Tabellen keinen Überblick und ich kann auch nichts direkt herauslesen. Erst durchs Kartieren erhalte ich ein Gefühl für die Entwicklung», erzählt er. Bei den Symbolkarten ist Chris sogar so weit gegangen, dass er auch die Symbole selber entwirft: Jede Ortschaft mit Daten erhält ein Windrad, bei dem die Richtung und Farbe der Lamellen für die vorhandenen Diminutivendungen stehen.
(aus Chris De Wulf & Eline Lismont (in Vorbereitung), ‘Historisch-geografische en fonotactische variatie bij het diminutiefsuffix’.)
Lässt er die Karten mit den Windrädern chronologisch wie einen Film ablaufen, stellt er eine räumlich-zeitliche Entwicklung fest: «Im Mittelalter enthalten viele Diminutivendungen den Buchstaben k. Ab dem 16. Jahrhundert gibt es eine phonetische Veränderung im Norden Hollands. Die Endung wird zu -tje und breitet sich langsam Richtung Süden aus, aber nicht überall. Es gibt eine Aufspaltung je nach Wortstamm.» Solche Veränderungen lassen sich in einer GIS-Software gut beobachten, weil man die einzelnen Kartenschichten, in Chris’ Fall Endungen, ein- und ausblenden kann. Explorieren nennt Chris dieses Vorgehen.
Schonungslos und lückenlos
Neben der Darstellung und Exploration von Daten sieht er noch weitere Vorteile der Karte gegenüber der Tabelle: «Eine Tabelle erweckt oft den Anschein der Vollständigkeit. Dass es aber Lücken gibt, zeigt sich auf der Karte besonders gut. Zum Beispiel, dass es für gewisse Gebiete keine oder nur wenige Daten gibt», erklärt Chris. Die Karte zeige somit auch, was nicht existiert. Im Gegensatz zur statistischen Datenerhebung und Darstellung sei eine Karte viel ehrlicher, weil sie die Daten zeige, wie sie sind. «Die statistischen Verfahren lenken den Blick schnell weg von Lücken auf relevante Daten und nehmen so eine Selektion vor», fährt Chris fort, «wohingegen bei der Karte die Verantwortung dafür, was für die weitere Analyse mitgenommen wurde und was nicht, viel klarer ist, weil die Verallgemeinerung nicht auf der Karte, sondern erst im Text stattfindet.»
Die Ästhetik der Karte
Als Linguist schätzt Christ die Arbeit mit der GIS-Software. «Schon als Kind habe ich gerne gezeichnet. Die Karte bietet mir die Möglichkeit, in der Linguistik etwas ästhetisch darzustellen», meint er. «Zudem ist die Karte ein greifbares Produkt meiner Forschung, das ich beim Betrachten im Vergleich zu einer Seite Text viel schneller erfassen kann.» Eine Karte lässt sich zudem einfach erweitern, wenn neue Daten vorliegen oder die bestehenden Daten in eine neue Karten einfliessen sollen. Chris mag es, Neues auszuprobieren: «Bislang habe ich die Isoglossen von Hand gezogen, doch wenn man genügend Datenpunkte hat, könnte man das auch mit QGIS machen. Ich würde sehr gerne mal eine Interpolation durchführen, um die Diminutivvarianten flächig darzustellen.»
Dr. Chris De Wulf ist Oberassistent für Niederlandistik (Linguistik) am Deutschen Seminar der UZH. Er hat in Gent studiert und mit dem Lizenziat in Germanischen Sprachen abgeschlossen. Danach hat er während zehn Jahren an der Universität Gent und der Königlichen Akademie der niederländischen Sprache und Literatur, KANTL, geforscht. Er war u.a. Co-Autor und Kartograph des phonologischen Atlas der niederländischen Dialekte (FAND, 2005). In dieser Tätigkeit ist er zum ersten Mal in Kontakt mit einer GIS-Software (MapInfo) gekommen. Vor drei Jahren hat Chris über eine Kollegin von QGIS erfahren. Nach einer ersten autodidaktischen Phase hat er 2021 an der UZH einen Kurs bei Daniel Ursprung besucht. Seither ist die Arbeit mit der GIS-Software weiterhin fester Bestandteil seiner Forschung.
Der Kloekecode ist eine eindeutige Kombination aus Buchstaben und Zahlen, die in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts allen Orten in den Niederlanden, Flandern, im Nordwesten Deutschlands sowie in Nordfrankreich zugewiesen worden ist. Die Stadt Antwerpen zum Beispiel hat den Code K 244. Der Kloekecode wird noch heute in der Niederlandistik verwendet und lässt sich mit einem Koordinatensystem verknüpfen.
Der Code ist folgendermassen aufgebaut: Ein Gitter wurde auf die oben genannten Gebiete gelegt, wobei jede Gitterzelle einen Buchstaben von A (oben links resp. Nordwest) bis Q (unten rechts resp. Südost) erhält. Alle Ortschaften mit einem Zentrum innerhalb einer Gitterzelle werden von 1 bis n durchnummeriert; die Reihenfolge ist wieder von oben links nach unten rechts. Falls sich in einer Ortschaft seit dem Beginn der Codierung weitere Zentren herausgebildet haben, wird der Code mit -a, -b, -c usw. erweitert. Falls es eine Ortschaft nicht mehr gibt, wird deren Code nicht einer neuen Ortschaft zugewiesen, damit es im historischen Vergleich keine Verwechslungen gibt.