Was können uns Schiffswracks im 19. Jahrhundert im Indischen Ozean über das Klima der Vergangenheit sagen? Und was verraten uns die Aufzeichnungen dieser Wracks darüber, wie Klimawissen generiert wird? Diesen Fragen geht Debjani Bhattacharyya, Professorin für die Geschichte des Anthropozäns am Historischen Seminar der UZH, in ihrer Forschung im Rahmen eines gross angelegten Projekts nach.
"Üblicherweise betrachtet die historische Klimatologie tagesaktuelle Wetteraufzeichnungen wie Wettertagebücher oder Bauernjahrbücher. Daraus werden Informationen über das Wetter und das Klima in der Vergangenheit abgeleitet", sagt Debjani Bhattacharyya, Professorin für die Geschichte des Anthropozäns am Historischen Seminar der UZH. Sie jedoch interessiere sich für ganz andere Quellen, erklärt sie: "Wir nennen sie 'Wettergenres' und meinen damit alle Arten von nicht-traditionellen, nicht-wissenschaftlichen Quellen, die bislang von Historikern und Historikerinnen ignoriert worden sind." Beispiele sind die kaiserlichen Finanzen oder der Seehandel. "Sie enthalten viele Informationen über Wetterkatastrophen, z.B. dank der Versicherungsansprüche, die wegen Hagel geltend gemacht wurden", fügt Debjani hinzu. Auf der Suche nach Wettergenres stiess Debjani auf die Wrackaufzeichnungen im Indischen Ozean, die von 1864 bis 1940 jährlich erstellt wurden und jeweils 700 bis 800 Seiten einschliesslich Karten umfassen.
Das Potenzial der jährlichen Karten
Zunächst untersuchte Debjani die Karten in den Wrackjahrbüchern, ohne an deren Digitalisierung zu denken. Sie interessierte sich hauptsächlich für die Rechtsfälle in den Jahrbüchern, da sie feststellte, dass die Sachbearbeiter, die die Fälle zusammenstellten, eine Typologie der Wracks entwickelten: "Sie unterschieden zwischen Wracks (engl. wrecks) und Unfällen (engl. casualties), also zwischen natürlichen und menschlichen Ursachen der Wracks". Da ihr Schwerpunkt auf dem Wetter und Klima lag, war Debjani mehr an den Wracks interessiert.
"Erst als ich einen Vortrag an der New York University hielt, wies mich der Historiker David Ludden, der sich mit indischen Häfen beschäftigte, darauf hin, dass die meisten Menschen nicht wussten, dass es diese Art von Daten für den Indischen Ozean überhaupt gibt", sagt sie. In diesem Moment wurde sich Debjani des Potenzials bewusst, das in den Karten steckt: "Angesichts des Klimawandels, der im Indischen Ozean derzeit verheerende Auswirkungen hat, dachte ich, dass diese Aufzeichnungen über fast 80 Jahre helfen könnten, die dynamischen Veränderungen in diesem Zeitraum zu rekonstruieren." Sie war neugierig, ob die Karten mehr oder etwas anderes aussagen könnten als die schriftlichen Berichte über diese Fälle: "Welche Art von Wetterereignissen können wir zum Beispiel aus diesen Karten ablesen? Gibt es eine Häufung von Wracks an einem Ort, an dem ich dies nicht erwartet hätte?"
Erwartete und unerwartete Hotspots
Die gedruckten Karten in den Jahrbüchern decken den gesamten Indischen Ozean ab. Jedes Schiff ist ungefähr dort eingezeichnet, wo sich das Wrack oder der Unfall ereignet hat. In einigen Fällen reicht der Platz auf der Papierkarte jedoch nicht aus, um alle Wracks korrekt zu lokalisieren. Die Wracks werden dann in Richtung Meer oder Festland aufgereiht (siehe Bilder unten). Zusätzliche Informationen über den Standort und die Umstände eines Wracks finden sich in den schriftlichen Aufzeichnungen.
Am Anfang hatte Debjani keine Erwartungen an die digitalisierte Karte: "Ich war unvoreingenommen und neugierig, was die digitalen Karten zusätzlich aussagen könnten." Dies änderte sich jedoch, als sie eine erste Karte digitalisiert durch den GIS Hub sah (Karte in neuem Tab öffnen):
Digitalisierte Karte der Wracks und Unfälle im Jahre 1883. Um die Karte zu erkunden, klicke auf das Symbol mit dem Papierstapel, um einzelne Layer/Informationsebenen ein- und auszublenden. Die eingeblendeten Layer erscheinen automatisch in der Legende (Datenquelle: The British Library). Open map in new tab.
"Es gibt Häfen unter den Hotspots für Wracks, die ich überhaupt nicht erwartet hätte. Ich nahm an, dass grosse Handelshäfen wie Mumbai (Bombay) und Kalkutta viele Wracks aufweisen würden. Auf den digitalisierten Karten tauchten aber auch kleinere Häfen als Hotspot auf, die meisten auf der westlichen Seite des Indischen Ozeans", bemerkt sie. Kleinere Häfen deuten auf Küstenhandel hin, nicht auf interozeanischen oder internationalen Handel. Was ist hier los, fragte sich Debjani, warum sollte der Küstenhandel in diesem hochfrequentierten Gebiet kartiert werden? "Ich nehme an, dass wichtige Waren verloren gegangen sind, sonst hätte es keine Kartierung gegeben", erklärt sie. Um die Rolle dieser kleineren Häfen weiter zu untersuchen, ging sie in die Archive von Bombay.
Rekonstruieren, wie Wissen generiert wird
"Nachdem ich einige der Karten in digitaler Form gesehen habe, möchte ich untersuchen, ob ihre Zahl über die Jahrzente an einem bestimmten Ort zu- oder abnimmt", sagt sie und fügt hinzu: "Falls ja, wäre es interessant, den Grund für die schwankenden Zahlen herauszufinden, z. B. ob sich die Schiffstechnik verbessert hat, ob es Wetterveränderungen oder grössere Turbulenzen gab? Ob es monatliche Verschiebungen gibt, z.B. Risikobereiche je nach Jahreszeit? Und natürlich interessiert mich die soziale, wirtschaftliche und politische Geschichte, die sich rund um die Wracks abspielt", erklärt sie.
Debjanis Interesse an den Karten ist zweigeteilt: Sie ist nicht nur an den Wracks selber interessiert, sondern auch daran zu rekonstruieren, wie dieses Wissen generiert wurde: "Ich möchte nachvollziehen, wie sich die Methoden der Datenerfassung und der Wissensproduktion verändert haben, als die Menschen mit der Kartierung der Wracks begonnen haben." Ausserdem interessiert sich Debjani für die Motivation der Menschen: "Ich möchte herausfinden, was sie sich von diesen Informationen versprachen."
Ausweitung des Projekts
Die Wrackkarten des Indischen Ozeans sind nur ein kleines Puzzlestück in einem grösseren Projekt. "Ich möchte das Projekt mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) ausweiten und ein sogenanntes ‘transversal deep mapping’ durchführen", erklärt Debjani und ergänzt, "Das bedeutet, dass ich zwei Räume vergleiche, die Karibik und den Indischen Ozean, die beide zum britischen Empire gehörten, und sie als miteinander verbundene Ozeane betrachte, da Wissen, aber auch Schiffe und andere Güter ständig ausgetauscht wurden." Der Vergleich werde in Bezug auf die Natur als aktive Akteurin der Geschichte gezogen, erklärt Debjani: "Die El-Niño-Südliche Oszillation sorgt regelmässig für Hurrikane und Wirbelstürme in der Karibik. Ich möchte herausfinden, wie sich diese Wetterphänomene auf den Handel, Schifffahrtsrouten, Versicherungsverträge, aber auch auf die Wissensproduktion über das Wetter usw. auswirken." Der Entscheid über den SNF-Antrag wird Mitte April erwartet.
Nicht zuletzt sollen die digitalisierten Informationen der Forschung zur Verfügung gestellt werden, da es sich um langfristige, längsschnittliche Daten handelt, die von Klimatologen und Klimatologinnen gesucht sind, so Debjani abschliessend.
Debjani Bhattacharyya ist Professorin für die Geschichte des Anthropozäns am Historischen Seminar der UZH. In ihrer Forschung geht Debjani den Fragen nach, wie rechtliche und wirtschaftliche Strukturen uns darin beeinflussen, wie wir Umweltveränderungen konzeptionalisieren oder wie wir auf Klimakrisen reagieren. Gegenwärtig schreibt sie umfassend darüber, wie die Risikoerwartungen des Seeversicherungsmarktes das Wetterwissen, die kolonialen ozeanographischen Wissenschaften und den Derivatmarkt für Klima Futures in der Region des Indischen Ozeans geprägt haben. Sie ist Direktorin des Digital History Labs und Co-Direktorin des Cultural Analysis Programs an der UZH.
Die Karten der Unfälle und Wracks aus zwei verschiedenen Jahren wurden vom DSI GIS Hub als Teil eines interdisziplinären Projekts digitalisiert. Dieses Projekt diente als Vorstudie, um das Potenzial der digitalisierten Karten aufzudecken. Die Ergebnisse flossen in den SNF-Antrag ein.