1854 kartiert der Arzt John Snow die Cholerafälle im Londoner Stadtteil Soho. Er kann so zeigen, dass die Krankheit über verseuchtes Wasser übertragen wird. Was sich heute aus den Cholerazahlen von 1855 in Basel mittels geografischer Visualisierungen herausholen lässt, hat Inga Birkhölzer in ihrer Masterarbeit untersucht.
Als sich Inga Birkhölzer auf die Suche nach einem Thema für ihre Masterarbeit in Geografie macht, hat sie einen Nebenjob am Institute for Evolutionary Medicine der UZH. Sie digitalisiert dort alte Gesundheitsbulletins fürs Projekt Past Pandemics. «Dass ich diese beiden Forschungsgebiete in meiner Masterarbeit dereinst kombiniere, habe ich nicht von Anfang geplant», meint sie schmunzelnd, und ergänzt: «Ich wusste zwar, dass ich meine Masterarbeit im Bereich Geovisualisierung bei Prof. Dr. Sara Fabrikant schreiben wollte.” Dass sich Sara und PD Dr. phil. Kaspar Staub, für den Inga bereits arbeitete, kannten und in einem früheren Projekt die spanische Grippe mittels GIS untersucht hatten, wusste sie jedoch nicht. «Als wir das geklärt hatten und Sara mir die Rekonstruktion der Choleraepidemie 1855 in Basel als Thema vorschlug, dachte ich sofort, dass das gut passt», erzählt Inga.
Die Karte von John Snow kannte Inga bereits aus diversen Vorlesungen, weil sie oft gezeigt wird. «Was John Snow gemacht hat, ist eine von vielen Möglichkeiten der Visualisierung. In meiner Arbeit geht es darum, was sich mit den Fallzahlen und zusätzlichen Daten heutzutage mit einem GIS herausholen lässt, um die Choleraepidemie zu rekonstruieren», fasst Inga zusammen. Bevor sie sich aber an die Visualisierung machen konnte, musste Inga diverse Daten beschaffen und für die Arbeit in einem GIS aufbereiten.
Von Fallzahlen über Brunnen bis zum Zensus
Die Cholera wütete in Basel von Ende Juli bis Ende September 1855. Knapp 400 Personen wurden infiziert, wovon die Hälfte der Krankheit erlag. Die Behörden von damals haben die Epidemie gut dokumentiert – handschriftlich versteht sich. Die Akten dazu lagern im Staatsarchiv Basel-Stadt und dienten Inga als Datenquelle, wie sie erklärt: «Ich hatte Fotos dieser Akten und musste die Daten erst manuell aufbereiten.» Konkret hat Inga jeden Eintrag entziffert und in eine Tabelle abgetippt. Erfasst wurden Name, Alter, Geschlecht, Beruf und Adresse der Person, das Datum des Ausbruchs der Cholera, ob die Person zu Hause blieb oder in ein Spital ging und das Genesungs- oder Sterbedatum.
Um den Bezug zum Raum herzustellen, mussten die Adressen georeferenziert werden. «Das Georeferenzieren, also jedem Eintrag eindeutige Koordinaten zuweisen, war etwas schwieriger, weil sich das Adresssystem seit 1855 geändert hat. Ich konnte sie deshalb nicht einfach mit einem Ortslexikon abgleichen», führt Inga aus. Dafür hat sie Hilfe vom Vermessungsamt des Kantons Basel-Stadt erhalten, wo die alten Adressen in Basel bereits einmal für ein früheres Projekt georeferenziert worden sind. «Ich konnte dann 382 der 399 Adressen zuordnen und die Fälle pro Adresse auf einer Karte darstellen», erklärt sie.
Um die Stadt Basel im Jahr der Choleraepidemie möglichst genau darzustellen, hat Inga einen Situationsplan des Geometers Ludwig Heinrich Loeffel von 1862 georeferenziert. Volkszählungsdaten von der Bürgerforschung Basel halfen ihr, die Cholerafälle in Relation zur Bevölkerungsdichte zu setzen. «Die Zensusdaten waren für die Jahre 1850 und 1860 schon digitalisiert; aus den Angaben dieser beiden Jahre habe ich die Daten für 1855 approximiert», so Inga. Für den geografischen Kontext hat Inga die damaligen Quartiere zusammen mit dem Vermessungsamt Basel-Stadt digitalisiert. «Die Quartiere selbst haben sich über die Zeit verändert, aber auch der Lauf des Rheins, der mitten durch die Stadt fliesst. All das mussten wir in der Geometrie der Bezirke berücksichtigen», erklärt sie. Die Zensus- sowie die Cholerafälle hat sie anschliessend den einzelnen Quartieren zugeordnet.
«Die Trinkwasserversorgung resp. die Brunnen spielen für die Ausbreitung eine wichtige Rolle», sagt Inga, und erzählt, wie sie zu den Standorten der Brunnen im Jahre 1855 gekommen ist: «Statt jeden Brunnen einzeln zu erfassen, bin ich vom aktuellen Datensatz der Industriellen Werke Basel ausgegangen und habe alle Standorte behalten, welche auch auf der Karte von Loeffel aus dem Jahre 1862 vorhanden waren.» Alle anderen Brunnen wurden rausgelöscht. Einen ähnlichen Abgleich hat Inga mit zwei weiteren alten Quellen gemacht. Danach hatte sie 389 Brunnen, wovon sie aber nur die öffentlich zugänglichen für die weitere Analyse berücksichtigt hat. Schliesslich blieben 58 übrig.
Ab auf die Karte
Mit all diesen Daten konnte Inga den Verlauf der Choleraepidemie nun statistisch und kartografisch in ArcGIS Pro darstellen. «Ich habe zum einen die Anzahl Fälle über die Zeit in einem Histogramm dargestellt, zum anderen die Fälle pro Adresse kartiert. Auf der Karte sieht man gut, wie sich die Fälle aufs städtische Gebiet – sowohl Gross- wie auch Kleinbasel – konzentrieren», sagt Inga mit Blick auf die folgende Karte:
«Zusätzlich habe ich die Fälle pro Haushalt und Woche kartiert, um die Entwicklung der Epidemie über Raum und Zeit darzustellen», erzählt Inga:
Noch deutlicher sichtbar wird diese Konzentration auf städtische Gebiet auf der Dichtekarte (Kernel Density Estimation), welche die Anzahl Fälle pro Quadratkilometer darstellt. «Vor allem Kleinbasel in der Rheinschlaufe war stark betroffen», sagt Inga.
Um herauszufinden, bei welchen Brunnen die meisten Fälle auftraten, hat Inga Thiessen-Polygone um die Brunnen herum berechnet. «Die Thiessen-Polygone stellen das Einzugsgebiet der Brunnen dar, d.h. für jeden Punkt innerhalb des Polygons ist der Brunnen in der Mitte der nächste. Wenn man die Fälle pro Polygon berechnet, erhält man wieder eine Dichteoberfläche ähnlich wie bei der Karte oben», erklärt Inga:
«Die Dichte der Fälle ist nahe der Rheingasse in Kleinbasel am höchsten», führt Inga aus, «Es ist dokumentiert, dass der Brunnen dort geschlossen wurde. Die Behörden vermuteten, dass das Wasser des Brunnens durch Abwässer der Strassen oberhalb verschmutzt worden war.» Das Datum der Schliessung wurde jedoch nicht überliefert. Hohe Dichten ergeben sich auch dem Birsig entlang in Grossbasel. Der Grund dafür sei nicht eindeutig, so Inga: «Da die Topographie und der Flusslauf voneinander abhängen, ist es schwierig zu sagen, ob der Fluss als Abwasserkanal oder die Topographie – kontaminierte Flüssigkeiten, die talwärts fliessen – für die hohen Dichten verantwortlich ist.»
Mehrwert von Digitalisierung und Visualisierung
Obwohl die Übertragungswege von Cholera 1855 noch nicht bekannt waren, hätten die Behörden damals die Risikogebiete identifiziert, meint Inga. Ihre Masterarbeit helfe, den Verlauf der Epidemie zu rekonstruieren. «Gleichzeitig lassen sich aus der Arbeit Risikofaktoren für die Ausbreitung von Cholera heutzutage ableiten, denn die Cholera ist in verschiedenen Ländern immer noch weit verbreitet», ergänzt sie. Das helfe, passende Massnahmen zu ergreifen, nicht nur für die Cholera, sondern auch für andere ansteckende Krankheiten. Darüber hinaus hat Inga eine grosse Menge an Daten digitalisiert, die nun für weitere Projekte der Forschungsgruppe Historische Epidemiologie zur Verfügung stehen. «Die Daten haben viel Potenzial: Man könnte damit eine interaktive Karte erstellen oder mehr zum Hintergrund der Personen forschen, zum Beispiel welche Bevölkerungsgruppe am meisten betroffen war. Weiter könnte man mit einer Überlebenszeitanalyse herausfinden, welche Variable(n) die Überlebenszeit beeinflussen», erklärt Inga.
Inga Birkhölzer hat im Frühling 2023 ihren Master in Geografie mit der Vertiefung Geographic Information Science and Systems an der UZH abgeschlossen. Heute ist sie GIS-Entwicklerin im Bauingenieurs- und Bauplanungsbüro F. Preisig AG, wo sie neben ihrer Masterarbeit schon in einem reduzierten Pensum tätig war. Aus dem Geografiestudium ins Arbeitsleben nimmt Inga zusätzlich zu den fachlichen Kompetenzen und den ArcGIS-Skills das vernetzte Denken sowie den Umgang mit verschiedenen Arten von Daten mit.